Leben ohne Grauzonen
- Delia
- 15. Nov. 2021
- 5 Min. Lesezeit
Letztens meinte jemand aus der Schweiz zu mir, ich benutze stärkere Ausdrücke in meinen Nachrichten. In der Tat mag das stimmen, und hat wahrscheinlich – mehr als mit mir selbst😉 – mit meinem längeren Aufenthalt in Argentinien zu tun.

In Argentinien sind die Dinge extremer als in der Schweiz. Nicht nur in der Sprache, sondern auch im sonstigen Leben hier ist vieles in Superlativen. Im Vergleich mit der Schweiz ist das offensichtlichste Beispiel wohl die Fläche und Einwohneranzahl von Argentinien. Das südamerikanische Land hat 45 Millionen Einwohner auf einer Fläche von 2.7 Millionen Quadratkilometern – das ist 65 mal so gross wie die Schweiz!
Aber nur weil die biographischen Daten von Argentinien extrem sind, ist es das Leben noch lange nicht, mögt ihr jetzt denken.
Da habt ihr natürlich recht.
Dennoch werde ich hier erklären, warum das Leben hier extremer ist als in der Schweiz – meiner Meinung nach.
Beginnen wir bei der Kultur. Argentinien ist ein gefühlvolles Land. Gefühle, seien sie positiv oder negativ, werden ausdrücklich gezeigt. Es ist nicht schwer zu erkennen, wer im Fussball gewonnen hat, selbst wenn man den Match nicht geschaut hat: Am nächsten Tag in der Arbeit sind die Fussballfans entweder todunglücklich oder auf Wolke sieben – da gibt es keine Grauzone.
Auch bei politischen oder sozialen Themen gibt es starke Meinungen. Viele Jugendliche haben Pins oder Armbänder, die ihre sozial-politischen Meinungen repräsentieren. An einem Treffen unter Freunden kann eine Diskussion über Politik auch mal ausarten.

Dass Menschen in Argentinien keine Hemmungen haben, ihre Gefühle oder Meinungen auszudrücken, sieht man auch in der Sprache. Der argentinische Wortschatz kann man nicht mit einem durchschnittlichen Spanischwörterbuch vergleichen (das gilt ebenso für andere spanischsprechende Länder). Es gibt Ausdrücke, die «typisch argentinisch» sind und Wörter, die ganz eigen in dem Land gebraucht werden.
Ein typisches Wort wäre zum Beispiel «boludo». Das heisst «Idiot» - theoretisch. Jedoch hat es in der Praxis viel mehr Anwendungsmöglichkeiten und wird eher verwendet wie «alter» in der Schweizerischen Jugendsprache (siehe meinen Artikel über argentinische Unterhaltungen).
Es ist demnach nicht ungewöhnlich als Begrüssung zum Kumpel zu sagen: «que hacés, boludo» (was machst du so/wie geht's dir so, Idiot). Niemand würde sich deswegen beleidigt fühlen. Wenn man jedoch etwas fallen lässt und sagt «que boluda que soy!» würde das eher bedeuten «wie blöd/dumm ich doch bin!».
Auch Flüche werden meiner Empfindung nach in Argentinien häufiger verwendet als in der Schweiz – nicht als Beleidigung, sondern einfach, um etwas zu benennen oder dem Frust Luft zu machen. Statt zu sagen «wie blöd!» sagt man schnell mal «was für eine Sch3isse!» - warum auch untertreiben, wenn man übertreiben kann?
Die Sprache zeigt ebenso, dass vieles ohne Grauzonen abläuft. Statt zu sagen, das Essen ist «ganz gut» oder «vielleicht ein bisschen angebrannt, wenn ich ehrlich bin», sagt man hier, das Essen ist «unglaublich spitze!» (re bien / buenísimo) oder «ziemlich angebrannt» (re quemado / malísimo). Statt zu sagen «bien», sagt ein Argentinier also «buenísimo» und statt «mal» benutzt man «malísimo». Das muss man sich als Schweizerin in Argentinien merken – wenn man nämlich ein Kompliment geben will und sagt «bien» oder «bueno», kommt das etwas halbherzig rüber.
Man sagt nicht «ich mag Kuchen ganz gerne», sondern «ich liebe Kuchen über alles» (me encanta). Und statt zu sagen, «fast bin ich ausgerutscht», hört man hier «fast hab ich mich umgebracht» (casi me mato).
Muss ich noch mehr Beispiele bringen?
An der Stelle muss ich wohl auch ein ernsteres Thema ansprechen, wenn ich von Extremen in Argentinien bzw. Buenos Aires spreche. In meinem letzten Blogbeitrag über Gegensätze in Argentinien (klickt hier) konnte man vielleicht schon rauslesen, dass es reichere und ärmere Quartiere gibt – die zum Teil direkt nebeneinander liegen.
Die Armut in Argentinien ist im letzten Jahr auf 46% gestiegen.
In Argentinien ist die Armut während der Pandemie von etwa 35% auf 46% gestiegen, mit fast 11% Obdachlosen. Wenn man die Zahlen nach Alter anschaut, sind mehr als die Hälfte der Kinder arm und 15% der Kinder sind obdachlos. Die Zahl der Obdachlosen ist etwa gleich gross wie die Anzahl Menschen, die an Hunger leiden.
Zum Vergleich: USA hat ca. 0.2% Obdachlose, ebenso Deutschland und Dänemark (zur Schweiz hab ich keine genauen Zahlen gefunden).
Es ist also klar erkennbar, dass es einen extremen Unterschied zwischen den reichen und armen Leuten in Argentinien gibt. Ich sehe täglich Obdachlose auf der Strasse, die sich in einer Ecke einrichten um zu schlafen oder essen. Und dies unabhängig davon, ob ich in einem «reicheren» Viertel wie Belgrano unterwegs bin oder in einem «ärmeren» Viertel wie La Boca. In der Strassenbahn ist es üblich, dass Familienväter oder Mütter mit Kinder Socken, Stifte, Süssigkeiten und sonstige Kleinigkeiten verkaufen, um Geld nach Hause zu bringen. Ebenso sieht man Familien, die Müllabfuhrcontainer nach weggeworfenem Essen oder Kleider durchsuchen (und das bricht einem wirklich das Herz). Und bis hierhin rede ich noch nicht von den über 4.000 Slums (Villas) in Argentinien, in denen ganze 3.6 Millionen Menschen leben…
In einer Villa (Slum) war ich persönlich noch nie, jedoch bin ich im Zug oder Bus daran vorbeigefahren. Was ich hingegen seit der COVID-19-Pandemie täglich bemerke, ist der Anstieg der Armut im Land. Ich sehe häufiger Menschen, die auf der Strasse schlafen, Familien, die Essen aus Müllcontainer holen und Menschen, die mit Schildern auf der Strasse sitzen, auf denen sie ihre Situation erklären und um ein paar Pesos bitten. Allein schon der Zustand und die Sauberkeit der Strassen nahmen im letzten Jahr ab. Das mitanzusehen und zu wissen, dass das nur ein kleiner Teil vom Ganzen ist, ist schwer.

Neben all der Armut gibt es also Leute, die 750.000 pesos im Monat verdienen – etwa 14 mal mehr als der Durchschnittslohn. Und Argentinier*innen, die in einer internationalen Firma monatlich 6.000 Dollars verdienen, was etwa 1.200.000 argentinischen pesos entspricht. Ebenso gibt es einen enormen Unterschied von Provinz zu Provinz von 83.000 pesos (ca. 410 USD) Lohn im Monat – der Süden ist generell besser bezahlt als der Norden von Argentinien. (Natürlich ist mir bewusst, dass das Problem komplexer ist als der Lohnunterschied.)

Nun, die ganze Zahlenflut sollte euch etwas näher bringen, wie der Unterschied zwischen Arm und Reich in Argentinien aussieht und dass es nicht nur Extreme in der Kultur und der Sprache gibt, sondern auch der Ökonomie.
Es gibt also beim Leben in Argentinien Extreme, die ins Positive gehen und Extreme, die ins Negative gehen.
Nachtrag:
Mein Blog hier ist zwar zur Unterhaltung gedacht, aber ich kann nicht mit gutem Gewissen über gewisse Themen sprechen und verwandte, ernstere Themen dabei auslassen. Daher gab es zum heutigen Anlass einen kurzen Beitrag über die Armut in Argentinien.
Diejenigen, die den Blog von Anfang an verfolgten, wissen wohl, dass ich hier in verschiedenen NGOs gearbeitet habe. Bei der Suche nach NGOs habe ich viele Orte besucht und ein paar Kontakte erlangt von NGOs, die sich gegen die Armut einsetzen. Ich habe ab und an etwas an die NGOs gespendet und empfinde sie als vertrauenswürdig.
Mit 5 Franken kann man in Argentinien einen Tag lang essen.
Falls ihr auch nur 5 Franken zu viel habt, wären folgende NGOs sehr dankbar für einen Beitrag. Es sind alles NGOs, die ich persönlich kenne oder mit denen ich Kontakt hatte. Ich lasse euch den Link zur Webseite da und/oder den Link zur Webseite mit Spendebutton (klickt auf den Text).
Haciendo Caminos (kenne die Leute!) - spenden
Maria del Rosario (Heim für Kinder mit fehlendem Elternhaus, hab dort 3 Monate lang gearbeitet)
Ecohouse (setzt sich nicht für Armut ein, jedoch für die Umwelt)
Conciencia (eine Freundin von mir hat hier gearbeitet)
Techo (hab ich empfohlen bekommen, kenn ich nicht persönlich)
Die Überweisungen sind meist eine gewöhnliche Onlinezahlung. Teilweise wird "Mercado Pago" verwendet, ein online Zahlungsdienst von Südamerika - wie PayPal.
Quellen:
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